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Wie wir Gefühlen Raum geben können

Peter Schenkel • 22. Februar 2023

Gefühle sind wie Schmetterlinge, nicht wie Wespen

Gefühle – für viele Menschen kein leichtes Thema, insbesondere wenn sie unangenehm sind. Wir tendieren dazu, sie zu ignorieren, uns vor ihnen zu verstecken, vor ihnen wegzulaufen oder gegen sie anzukämpfen. Von vielen Ecken bekommt man dann zu hören, Gefühle sollte man „annehmen, akzeptieren, dankbar für sie sein“, oder ähnliches. Nur wie das geht, das ist nicht immer klar. Auch ich kann hierzu keine Wunderantwort geben. Mit folgendem kleinen Gedankenspiel kann ich jedoch zumindest bei der Suche danach unterstützen. 


Stellen wir uns ein Kind vor, wie es im Sommer auf einer grünen Wiese sitzt. Es ist komplett neugierig und unbefangen, hat die Hände im Schoß und wartet einfach vor sich hin. Nun kommt ein Schmetterling angeflogen, setzt sich in die offenen Hände und verweilt kurz. Wie reagiert das Kind? Meine Vermutung ist, dass kritische Kommentare wie „Der ist nicht bunt genug“, „Der ist zu klein“ oder „Da sind nicht genug Punkte auf den Flügeln“ hier nicht vorkommen werden. Pingelige Kunstkritiker bekommen das vielleicht hin, aber das Kind wird wahrscheinlich kurz den Atem anhalten, einen etwas angespannten Körper haben und das Beste geben, um das Tier nicht zu verscheuchen. Höchstens ein leises, „Whoaaa!“ wird ihm über die Lippen fahren.

Wenn Sie also irgendwo den Satz „Akzeptiere deine Gefühle wie sie sind“, aufgeschnappt haben, geht es nicht darum, diese „auszuhalten“ oder zu „ertragen“. Es gilt vielmehr, sie anzuschauen, komplett unvoreingenommen wie einen Schmetterling, den man noch nie gesehen hat – während man den kritischen Kommentaren des Verstandes möglichst wenig Aufmerksamkeit schenkt. 

Wie sehen die Gefühle wirklich aus? Was kommt auf, wenn man ihnen Raum gibt? Wenn Sie z.B. angespannt sind, weil Ihnen ein wichtiges Gespräch bevorsteht, wo genau ist die Anspannung? Wie fühlt sie sich an? Wie schwer ist das Gefühl – eher leicht und kribbelnd oder schwer und drückend? Wenn es „unangenehm“ ist, wo ist das „unangenehm“ genau? Wo sind die Grenzen des Gefühls? Wenn es im Hals ist, aber nicht in den Fingerspitzen, wo ist dann der Übergang? Ist das Gefühl an sich denn so gefährlich wie der Verstand versucht, uns klarzumachen? Ist es denn wirklich „unaushaltbar“, wenn wir versuchen, es nicht wegzuschieben, wenn wir es einfach nur ansehen wie es ohne Kommentar existiert?

Die Kommentare werden übrigens kommen, während Sie es ausprobieren, Ihre Gefühle zu betrachten oder schon während Sie diesen Text hier lesen. „Was soll das bringen?“, „Wie weiß ich, ob ich das richtig mache?“, „Ist dann das Gefühl am Ende auch weg?“ und so weiter. Und hier lade ich Sie ein, an das Kind mit dem Schmetterling zu denken. Würden Sie zu dem Kind gehen und fragen: „Was bringt es dir, den Schmetterling anzuschauen?“, „Verwandelt der sich auch mal in was Schöneres?“ oder „Schaust du ihn auch richtig an?“ oder hört sich das etwas albern an? Danken Sie Ihrem Verstand dafür, dass er versucht, seinen Job zu machen, nämlich Probleme zu lösen. Nur sind unsere Gefühle keine Steuererklärungen, verstopfte Leitungsrohre oder Kreuzworträtsel, die es zu lösen gilt. Vielleicht verwandeln Sie den Verstand einfach in einen weiteren Schmetterling, der um Sie herumflattert.

Ein paar kleine Hinweise


1. Unsere Gefühle sind Schmetterlinge, keine Wespen: Auch diese haben natürlich ihren Zweck in der Natur, nur lösen sie bei den meisten Menschen etwas anderes aus als Schmetterlinge. Behandeln Sie also Ihre Gefühle nicht, als ob Sie von ihnen gestochen werden könnten. Um keiner Wespen mehr begegnen zu können müssten Sie sich ordentlich verstecken. Wenn Sie sich entsprechend vor Situationen verstecken wollen, in denen unangenehme Gefühle auftreten könnten, dann grenzen Sie Ihren Lebensradius genauso ein. Wenn Sie die Wespe stattdessen wegscheuchen oder gar totschlagen möchten, kann es auch noch sein, dass Sie gestochen werden. Mit unangenehmen Gefühlen (z.B. Angst) ist das nicht anders. Bei dem Versuch, sie zu verscheuchen, entsteht häufig Angst vor der Angst. Und wenn Sie versuchen, die Gefühle mit Alkohol oder anderen Mitteln zu betäuben, schädigen Sie langfristig nur sich selbst. Vielleicht sehen die Schmetterlinge aufgrund eines bestimmten Musters manchmal etwas bedrohlich aus, aber das nur auf den ersten Blick – sie können nicht stechen und wollen es auch nicht.

2. Wir betrachten Schmetterlinge nicht, damit Sie wegfliegen:

„Ich muss nur gut genug akzeptieren, dann kommt die Angst nie wieder“ ist eine der größten Denkfallen, in die wir Menschen tappen. Manchmal fliegt er weg, manchmal kommt er wieder. Vielleicht schaffen Sie es mit der Zeit, herauszufinden, in welcher Situation welche Schmetterlinge eher kommen als in anderen. Nur vergessen Sie nicht: Keiner von ihnen ist gefährlich und sie alle tragen dazu bei, dass in unserem metaphorischen Inneren, Leben gedeihen und wachsen kann.


3. Schmetterlinge sind zerbrechlich:

Manchmal fühlen wir uns „gut“ und dann wollen wir nicht, dass der Schmetterling wegfliegt. Aus der Perspektive, dass es „gute“ und „schlechte“ Gefühle gibt, ist dieser Wunsch nachvollziehbar, nur auf Dauer nicht ohne Konsequenzen. Denken Sie nur an Menschen, die Glücksgefühle so sehr begehren, dass sie bereit sind, den Großteil ihrer Zeit und Ressourcen in fiktive Online-Welten (wie Instagram, Videospiele, pornografische Inhalte), Substanzen jeglicher Art (wie Zigaretten, Alkohol, Drogen) oder anderen Formen der schnellen Befriedigung (wie Glücksspiel) zu investieren. Wenn Sie versuchen, einen Schmetterling zu packen und in Ihren Händen zu halten, zerdrücken Sie ihn nur.


4. Schmetterlinge können wir mit uns tragen:

„Wenn ich die Übung richtig mache, sollte am Ende das Gefühl weg sein, oder?“ ist eine häufige Frage im Zusammenhang mit dieser oder ähnlichen Übungen. Und die Antwort ist: Nein, es gibt hier keinen Erfolg zu bemessen, schon gar nicht daran, dass der Schmetterling weg ist. Sobald Sie erfahren, dass Ihre Gefühle, egal wie sie sich zeigen, nicht Ihre Feinde oder zu lösende Probleme sind, kann der Schmetterling jederzeit auf Ihrer Schulter sitzen. Sie können dann mit Ihrem Körper und Ihrer Aufmerksamkeit all das machen, was wichtig ist. Millionen von Menschen trauen sich jedes Jahr auf soziale Veranstaltungen, während sie starke soziale Ängste haben. Zahlreiche Eltern lernen Tag für Tag, wie sie ihre Frustration den eigenen Kindern gegenüber akzeptieren können, während sie sich liebevoll um sie kümmern. Und irgendwo traut sich gerade eine Person, welche vor Jahren in der Liebe betrogen wurde, das erste Mal wieder auf Date – mit der Unsicherheit sowie der noch vorhandenen Trauer an der Hand.

Verlangen Sie nicht zu viel von sich auf einmal. Man sitzt nicht für 20 Minuten mit seinem Schmetterling in der Hand und hat plötzlich das Licht gesehen. Das ist wieder nur eine unrealistische Erwartung. Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Gefühle und wer weiß, vielleicht stecken hinter den zunächst einschüchternd aussehenden Flügeln des Schmetterlings, Hinweise auf das, was Ihnen im Leben am bedeutsamsten ist.

von Peter Schenkel 23. Februar 2023
Treat feelings like butterflies, not like wasps
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